Sonntag, 19. September 2021

THOMAS BAUERMEISTER 2021: Kino, Pandemie, Streaming

GESPRÄCH MIT THOMAS BAUERMEISTER im APRIL 2021



Thomas Bauermeister
Foto: TP2-Talentpool


Mit dem Kinogespräch von 1993, sind da eigentlich noch weitere Erinnerungen hoch gekommen, die erzählt werden könnten?

Thomas Bauermeister: Natürlich hat die Aufzeichnung des Kinogesprächs damals in Haiger jetzt beim Lesen eine Unmenge an Erinnerungen wach gerufen. Es sind so viele, dass sie unmöglich hier aufgezählt werden können. Zumal die meisten von ihnen auch mit sehr Persönlichen Dingen verbunden sind. Über all die neuen, sehr bewegenden Erfahrungen, aber auch über die mitunter durchaus schmerzhaften, könnte man, glaube ich, eigentlich ein eigenes ziemlich spannendes Buch herausgeben. Zumal das Ganze ja mitten in der Wendezeit mit ihrem Abenteuer einer deutsch-deutschen und zugleich einer „neuartigen“ deutsch-sowjetischen Begegnung stattfindet. Und all das vor diesen tödlich strahlenden Reaktor-Ruinen und der permanenten Lebensverstümmelung unzähliger Kinder und Jugendlicher.

Die für mich wichtigste Erfahrung, die sicher auch die vielen Mitstreiterinnen und Wegbereiter in Ost- und West geprägt hat, sollte man hier aber doch ansprechen: Es ist die Erfahrung, dass in einer katastrophalen Situation, die uns alle zur Ohnmacht, zur Lethargie und zur Resignation zu verdammen scheint. Es ist stets das Wirkungsvollste, Schönste und Heilsamste für alle, sich zur Wehr zu setzen, etwas zu tun. Was genau, ist erstmal fast egal, das ergibt sich wie von selbst. So war es für mich auch mit dem Film. Er sollte ja zunächst eigentlich nichts weiter als ein filmischer Spendenaufruf für die diversen Hilfsprojekte sein. Wobei es meine persönliche Motivation dazu war, wie ich von Anfang an allen Beteiligten und Unterstützern sehr deutlich sagte, dass ich eine komplizierte vorrangegangene Erfahrung als Drehbuchautor schlicht in einen Film, indem es um darum geht, etwas Sinnvolles aufzubauen, zu kämpfen und sozusagen dem Tod zu trotzen, abreagieren wollte. So schnöde unheroisch war das, dass einige davon gar nichts hören wollten oder sogar misstrauisch waren, ob ich dieses Thema nicht etwa für eigene Interessen ausbeuten würde. 

Dieser Konflikt trifft aber aus meiner Sicht genau in Schwarze jeder Hilfe. Sich aufzuraffen, ist zunächst das Entscheidende – und dabei überrascht festzustellen, wie viel Mut in einem selbst steckt, und wie einfach sich das plötzlich anfühlt. Alles Weitere kommt dann fast von selbst. Je mehr man damit etwas Neues für Andere zu versucht und solange die Ansprüche und einzelnen konkreten Schritte sich an den eigenen Möglichkeiten und Vorteilen orientieren, desto erfüllter und lehrreicher ist es für einen selbst. 

Die wichtigste Lehre aus meiner Sicht war: Jemand anderem zu helfen, geht nur auf Dauer gut, wenn man sich selber damit hilft. Und genauso umgekehrt. Du tust dir dann etwas Gutes, wenn du damit auch für andere da bist. Beides muss sich die Waage halten, davon bin ich spätestens seit dieser Zeit überzeugt. Gesunder Egoismus und Altruismus sind keine Gegensätze, das hat schon Erich Fromm immer wieder betont. Im Gegenteil, sie sind Bedingung für einander. Es ist extrem wichtig, dass man sich dies nicht nur sich selbst, sondern auch dem, der Hilfe empfängt, vom Anfang an ganz offen. Sonst läuft von vorne herein etwas schief, und das rächt sich. Du musst sagen, warum es dir hilft, was dein egoistisches Interesse daran ist, dem anderen zu helfen. Das bedeutet, alle Helfer-Romantik über Bord zu werfen. Und das befreit nicht nur, sondern kann manchmal ganz schön weh tun.


Welchen Stellenwert hat dieser Film heute für dich?


Thomas Bauermeister: Zufällig habe ich erst neulich, nach ewigen Zeiten den Film wiedergesehen. Mein Sohn hatte mir eine mp4-Überspielung zum Geburtstag geschenkt. Ich sollte sehen, ob technisch alles ok geworden ist. Natürlich hatte ich ganz schön Angst, ob er heute noch Stand hält. Zum Beispiel wegen meiner, aus späterer Sicht, ziemlich pathetischen Kommentar-Stimme. Trotzdem hat er mir, ich muss es leider ehrlich sagen, auch ein bisschen zu meiner eigenen Überraschung, ziemlich gut gefallen. Selbst wenn das eingebildet klingen mag. In der Sache ist alles noch genauso zutreffend, leider. Und auch sonst hat alles Bestand. Natürlich dokumentieren wir den damaligen Stand, aber das macht es aus meiner Sicht heute erst interessant. Vor allem aber, wie persönlich der Ton ist und wie musikalisch die vielen Ebenen ineinander spielen, hat mich im Nachhinein nach fast dreißig Jahren überrascht und ziemlich stolz gemacht. Ich hatte ganz vergessen, dass dieses Musikalische von Anfang an mein Konzept war. Und, sieh an, es funktioniert!
Trotzdem gibt es etwas, was seitdem an mir nagt und nie aufgehört hat, mich zu beschäftigen. Der Film lief damals relativ erfolgreich sogar im Kino, hat geholfen, eine Menge Spenden einzusammeln und sogar Preise gewonnen. Das bestärkte mich in dem Gedanken, den ich von Anfang an im Auge hatte: Nach ein paar Jahren mit demselben Team noch einmal nach Belarus zu fahren, um zu sehen, das festzuhalten, was inzwischen geschehen ist, wie es vor allem den Kindern geht, die inzwischen älter und vielleicht ganz woanders sind. 

Wir hatten ja beim Dreh mit allen ein ganz tolles und vertrautes Verhältnis gefunden, kurz, aber intensiv. Ich weiß, alle vom Team hätten begeistert mitgemacht. Aber ich selbst fühlte mich von dem Herumreisen mit dem Film, den immer schwieriger werdenden Umstände, die verschiedenen Hilfsprojekte tatsächlich zu realisieren, dann die Machtübernahme Lukaschenkos, mit der „unsere“ Babynahrungsfabrik über Nacht verstaatlicht und kurzerhand zweckentfremdet wurde, so ausgelaugt, dass ich mich unbedingt in andere Filmprojekte und Produktionen im Studio Babelsberg stürzen musste.
So blieb dieser Wunsch bis heute auf der Strecke. Auch wenn meine Familie und Freunde nicht aufhören, mich anzuspornen, um wie Louis Malle Anfang der Achtziger mit „God’s Country“ noch einmal aufzubrechen und dieselben Menschen dreißig Jahre später aufzuspüren, die uns damals als Kinder für einen Moment in ihre bedrohte Welt gelassen haben.


Wie glaubst du, könnten Kinos nach der Pandemie und Lockdown zurückkehren? Welchen Funktion werden sie haben?


Thomas Bauermeister: Viel interessanter ist aus meiner Sicht, woher es kommt, dass die Zukunft des Kinos, seitdem es existiert, kontinuierlich in Frage gestellt wird. Gleichzeitig geht Anne Sophie Mutter mit Filmmusik von John Williams auf Tournee. Das sagt eigentlich alles.
Seit über hundert Jahren Kinogeschichte gibt es eigentlich nur zwei Dinge, die sich keinen Deut verändert haben. Ein Drehbuch sieht heute im Format noch exakt genauso aus wie vor hundertzwanzig Jahren. Und die Frage, ob das Kino „überleben“ wird? Es gibt nichts Beständigeres als diese Frage. Dazu gehört auch, dass sie so gut wie nie von denen gestellt wird, die selber Filme machen. Welche Bedrohungen soll das Kino denn überleben? Wie sollten andere Medien das Einzigartige denn ersetzen können, was Kino ausmacht? Größe, gemeinsames Lachen, Berührt-Werden, im Dunklen mit vielen Menschen, die man nicht kennt und nie wieder sehen wird mit offenen Augen zu träumen, zu rätseln und sich das vorzustellen, was nicht zu sehen ist. Kino ist nicht nur die ganze Welt und ihre Erzählung in einer Kristallkugel. Wie jedes Ritual lässt es uns vor allem unmittelbar spüren, dass wir alle Menschen sind, dass ich weiß, dass es mich gibt mit allen meinen Ängsten, heimlichen Wünschen, auch wenn sie verboten sind, meinem Wunsch nach Trost und zu begreifen. Denn ich sehe und höre und spüre, dass ich in diesem Saal gerade dasselbe erlebe wie mein Nachbar und all die anderen. Dass uns unsere Gefühle und Gedanken sehr ähnlich und doch eigen sind. Dass es etwas anderes als dieses Erlebnis gerade, das die Zeit stillstehen lässt, für uns alle in diesem „ewigen Augenblick“ nicht gibt.
Natürlich wird das Kino zurückkehren und zwar mit voller Wucht, selbst und gerade dann, wenn wir lernen werden müssen, mit der Pandemie zu leben.

Oder ist Streaming genau so wertvoll?

Thomas Bauermeister: Streaming ist nach meiner Überzeugung absolut wertvoll, aber auf eigene Art. Es ist einen großartige Möglichkeit, gute Filme zu kommunizieren. Ob ein Film gut ist, hängt – entgegen der Auffassung ewiger Kulturapokalyptiker - nicht von seinem Medium ab, sondern davon, wie ein Film die jeweiligen Möglichkeiten und Bedingungen seiner Kommunikation nutzt und reflektiert und erweitert. 

Fest steht jedenfalls, dass ein guter Kinofilm (was immer dazugehören mag) in anderen audiovisuellen Massenmedien ausgezeichnet „funktioniert“. Das Umgekehrte ist so gut wie nie er Fall.
Wozu also sollte man Streaming überhaupt mit dem Kino vergleichen? Woher kommt auch hier diese merkwürdig permanente Fragestellung? Wer schert sich überhaupt darum? Ich habe die hervorragendsten Serien gesehen, ob im Streaming, im Fernsehen oder auf DVD. „Mad Men“, „Endeavour“, „The Americans“, „Bad Banks“, „Cromwell“, um nur einige zu nennen. Wir wissen doch seit Erfindung des Fernsehens, wozu Filme und Serien – und welche von ihnen -, auf einem Bildschirm und in einer selbst bestimmten zeitlichen und räumlichen Umgebung taugen. Eine große Anzahl von ihnen tut das seit Jahrzehnten und Aberjahrzehnten, und das weiß Gott nicht schlecht. Wie bei jeder künstlerischen Kommunikation gibt es tausende Spielarten von Musik, Jazz und Kammermusik, HipHop und Rembetiko, Barockoper und Schlager... es ist endlos. Gibt es in der Musik auch nur einen Menschen, der die Fragestellung sinnvoll fände, ob z. B. symphonische Musik „wertvoller“ sei als 
Kammermusik?

Vielen Dank für das Gespräch.

MATTHIAS HUES "Karate Tiger 2", "Dark Angel" und "Legion Of The Dead"

PERSÖNLICHES INTERVIEW  mit MATTHIAS HUES  Foto von Dennis Albrecht am Set von „Legion Of The Dead“ Fragen von Christian Witte:  Du hast mit...